Eine Geisterstadt besingt ihr zweites Leben: Schlabendorf

Felix Johannes Enzian, Lausitzer Rundschau 28.05.2010

Schlabendorf wurde durch die Revolution von 1989 ein zweites Leben geschenkt. Deswegen ist der Ort ab dem heutigen Freitag Held des IBA-Kunstprojekts „Paradies 2“. Ein ganzes Dorf musiziert.

Was »Das Geheimnis von Schlabendorf« ist – so der Titel dieser vierten Etappe von »Paradies 2« – bleibt unausgesprochen. Aber man könnte es mit Religionsvokabular die unsterbliche Seele des Ortes nennen.

Die größte Gaststätte »Zur deutschen Flotte« ist heute eine löchrige Ruine. Staub und Taubendreck haben sich ins Parkett gefressen. Darauf schwoft ein Liebespaar. Ein alter Mann schaut zu und sagt: »Ich habe hier 1949 meine Frau kennengelernt. Da war alles noch tipptopp.«

Keiner baute mehr ein Haus

In der Kirche neben dem Friedhof singen Mädchen in weißen Kleidern. Es wird erzählt: Eines Tages kamen Männer und holten die Toten aus der Erde.
In einer Scheune kauern Menschen auf Koffern – wie damals, als sich hier die Frauen vor den Russen versteckten und an Flucht dachten.

Dass Schlabendorf wie aus der Zeit gefallen wirkt, liegt daran, dass es den heutigen Ortsteil von Luckau (Dahme-Spreewald), in dem 370 Menschen leben, eigentlich nicht mehr geben sollte. Bis 1991 haben die Einwohner 31 Jahre lang auf die Abbaggerung ihrer Heimat gewartet. Keiner baute mehr ein Haus. Die 800 Jahre alte Ansiedlung wurde zur lebenden Geisterstadt. Bevor sich der Braunkohlebagger durch den Ortsteil Presenchen wühlte, zogen dessen Bewohner fort und nahmen ihre Toten vom Schlabendorfer Friedhof mit.

Dann strömten überall im Land Menschen durch die Straßen: Wir sind das Volk. Mit der politischen Wende änderte sich auch die Kohlepolitik. Aus der Geisterstadt wurde plötzlich wieder ein ganz normaler Ort. Die Grube, in die er stürzen sollte, ist noch da. Weil Wasser hineingepumpt wurde, liegt Schlabendorf nun an einem See und hat einen Hafen. Dort versammelt sich in der Abenddämmerung eine Menschenmenge, erinnert sich, macht und hört Musik – wie in der Gaststätte, der Scheune oder der Kirche.

All dies sind Eindrücke von der Generalprobe zu »Das Geheimnis von Schlabendorf« am vergangenen Mittwoch. Am heutigen Freitagabend, 19 Uhr, ist Premiere dieser außergewöhnlichen Inszenierung, die den ganzen Ort zum Bühnenbild verwandelt.

Verloren, wiedergewonnen

Der Schweizer Regisseur Jürg Montalta hat Schlabendorf wegen dessen ungewöhnlicher Geschichte zum Helden eines der sieben »Paradies 2«-Kunstprojekte gemacht. Diese bilden den krönenden Abschluss im zehnten und letzten Jahr der Internationalen Bauausstellung (IBA) Fürst-Pückler-Land. Thema der IBA und von »Paradies 2« ist der Wandel der Lausitz von der Braunkohle- zur Seenlandschaft. Schlabendorf, die verlorene Heimat, die plötzlich wieder eine offene Zukunft hat, steht wie kaum ein anderer Ort für diesen Prozess.

Auf Anregung Montaltas hat die englische Komponistin Hazel Leach mit vielen Einwohnern gesprochen und inspiriert von ihren Erzählungen eine »zeitgenössische Dorfmusik in fünf Sätzen« komponiert. Aufgeführt wird sie an mehreren Schauplätzen gleichzeitig, mit rund 200 Mitwirkenden aus Schlabendorf und Umgebung. 120 von ihnen machen Musik, darunter Musikschüler sowie eigens zu diesem Anlass gebildete Chöre. Die insbesondere dem Jazz verbundene Komponistin hat eine aus Trauer und Freude gemischte Musik für Gesang und variable Instrumente erfunden: Bläser sind zum Beispiel dabei, Kirchenorgel, elektrische Gitarren, improvisierte Trommeln aus großen Fässern. Aber auch die unkalkulierbaren Geräusche, die Klänge des Ortes, die Stimmen der Menschen und der Vögel gehören zum Konzert.

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Hazel Leach
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